Wozu denn noch Latein, eine „tote“ Sprache?

Diese Frage stellen sich viele Eltern, wenn sie beim Übergang ihrer Kinder aufs Gymnasium eine Entscheidung über die Wahl der Sprachenfolge treffen sollen. 

Natürlich muss der Englischunterricht aus der Grundschule lückenlos fortgesetzt werden. Aber dann auch noch sofort mit Latein als weiterer Fremdsprache beginnen? Latein kann ja auch noch später ab Klasse 7 oder 9, wenn die Kinder  selbst an der Entscheidung mitwirken möchten, oder auch noch zu Beginn der gymnasialen Oberstufe als neueinsetzende Sprache gewählt werden – und warum überhaupt? Heute stehen doch Computer, Digitalisierung und virtuelle Kommunikation im Fokus.

Aber Moment mal

Gleich fünf der in diesem kurzen Satz verwendeten Begriffe gehen auf Latein zurück:

  • Computer, abgeleitet vom englischen Verb „to compute“, jenes von lateinisch „computare – zusammenrechnen“
  • Digitalisierung, von lateinisch „digitalis – (auch in der Medizin verwendet) mit Hilfe des Fingers“ und von „digitus – Finger“
  • virtuell, entlehnt von französisch „virtuel – als Kraft vorhanden ohne Wirksamkeit“, dies zurückgehend auf lateinisch „virtus – Tüchtigkeit“
  • Kommunikation, von lateinisch „communicatio – Mitteilung“
  • Fokus, von lateinisch „focus – Feuerstätte, Brennpunkt“

Latein ist offensichtlich doch noch nicht ganz tot! Wir benutzen ständig Begriffe, die – teilweise vermittelt über z. B. Englisch (Computer) oder Französisch (virtuell) – der lateinischen Sprache entstammen.

Latein war vor gut 2000 Jahren Weltsprache und wirkte entsprechend der Expansion des Römischen Reiches über weite Teile des heutigen Europa hinaus bis Lateinamerika. Insbesondere die romanischen Sprachen, aber auch Englisch und Deutsch enthalten abgesehen von Fremdwörtern und Fachbegriffen viele Wörter lateinischen Ursprungs. Sprachwissenschaftler haben nachgewiesen, dass 60% des englischen Wortschatzes auf Latein zurückgeht. 

Wer also neben Latein auch Englisch oder eine der 15 romanischen Sprachen (Italienisch, Spanisch, Französisch, Portugiesisch, Rumänisch…) erlernen möchte oder evtl. später beruflich lernen muss, dem sind bei der oft so mühsamen Wortschatzarbeit viele Vokabeln schon vertraut. Außerdem erwirbt man mit einem erfolgreich abgeschlossenen Lateinunterricht das Sprachzertifikat „Latinum“, das im Abiturzeugnis dokumentiert wird und auch in Österreich und der Schweiz Eingangsvoraussetzung für zahlreiche Studiengänge ist. 

Die deutsche Kultusministerkonferenz hat die Bedingungen für den Erwerb des Latinums für alle Bundesländer einheitlich festgelegt.

Ein kurzer Exkurs zur Sprachgeschichte

Der Name „Latein“ geht auf die Latiner zurück, ein Volk im antiken Latium. Dort  entstand als Zentrum im Jahre 753 v. Chr. die Stadt Rom. Der renommierte Fußballclub „Latio Rom“ bezieht sich nebenbei stolz auf diesen Ursprung, auch wenn heute nicht alle Spieler des Clubs fließend Latein sprechen. 

Man unterscheidet in der Sprachentwicklung

  1. Frühlatein (6/5.Jhdt), überliefert nur in wenigen in Stein gemeißelten Inschriften,
  2. Altlatein (bis zum 2.Jhdt) überliefert oft nur fragmentarisch z.B. bei den Komödiendichtern Plautus und Terentius,
  3. Klassisches Latein (1.Jhdt vor und nach Chr.). Durch die Autoren dieser Zeit, der sog. „Goldenen Latinität“ wurde Latein zu einer Hochsprache, die als beispielhaft galt und deshalb – im Wesentlichen unverändert – lateinische Literatursprache blieb, im Gegensatz zum sog. „Vulgärlatein“, aus dem sich im frühen Mittelalter die einzelnen romanischen Sprachen entwickelten.

Die Autoren dieser „Goldenen Latinität“ – hier unter vielen vor allem Cicero, Caesar, Vergil und Ovid – sind bis heute (2000 Jahre!) gut überliefert. Ihre Werke bilden den Kanon der Originallektüre im heutigen Lateinunterricht. Sie vermitteln in ihren Werken den großen Schatz der Philosophie, auch der griechischen Antike, und zwar in voller Breite: Erkenntnistheorie, Anthropologie, Ethik sowie Rechts- und Staatsphilosophie.

Die Mühe lohnt sich

Während Aussprache und Rechtschreibung des Lateinischen für deutsche Muttersprachler (anders als z.B. bei Englisch und Französisch) keine Probleme bereiten, ist die Erarbeitung des Wortschatzes und der Grammatik schon eine Herausforderung. Im Schulalter sind Kinder und Jugendliche aber besonders aufnahmebereit und lernstark. Deshalb greift hier das ausgewiesene pädagogische Prinzip „Fördern durch Fordern“. Da die systematische Einführung in die lateinische Grammatik stets in unmittelbarem Vergleich zur deutschen Grammatik erfolgt, wird auch diese bewusster und exakter angeeignet.

Überhaupt ist dabei der Vergleich der sprachlichen Unterschiede eine spannende Sache. Augenfällig und zugleich überraschend ist, dass ein lateinischer Satz oder Text deutlich kürzer ist und mit viel weniger Wörtern auskommt als die deutsche Übersetzung. Die Ursache liegt in der synthetischen Formenbildung sowohl der lateinischen Verben wie auch der Substantive.

Latein ist eine „Endungssprache“, d.h. die Wortendungen enthalten jeweils die entscheidenden Informationen. So entspricht z.B. der lateinischen Verbform „laudemur“ die deutsche Übersetzung „wir möchten gelobt werden“ oder je nach Kontext „hoffentlich werden wir gelobt!“. Einem lateinischen Wort entsprechen also vier Wörter im Deutschen. Es gibt zwar wie im Deutschen Personalpronomina, aber im Lateinischen stehen sie nur, wenn sie besonders betont sind. So entspricht die kurze Wortendung „-mur“ im o.g. Beispiel der 1. Person Plural Passiv.

Auch bei den Substantiven enthält die Endung jeweils alle Informationen. Denn Latein kennt weder bestimmte noch unbestimmt Artikel. Ob z.B. das Wort „urbs“ übersetzt werden muss mit „die Stadt“, oder „eine Stadt“ oder nur mit „Stadt“ muss aus dem jeweiligen Kontext erschlossen werden.

Ein weiterer deutlicher Unterschied ist die größere Anzahl der Kasus. Außer den vier Fällen Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ hat das Lateinische drei weitere: Ablativ, Vokativ und Lokativ. Auch hier enthalten die Wortendungen jeweils alle Informationen zu Kasus, Genus und Numerus.

Der „Alleskönner“

Dabei kommt dem Ablativ eine zentrale Bedeutung zu, er ist ein wahrer „Alleskönner“. Meist bezeichnet er ein Mittel oder Werkzeug, z.B. „auxilio vestro“ – „mit eurer Hilfe“, aber auch eine Trennung „Roma“ – „von Rom“ oder eine Ortsangabe „Athenis“ – „in Athen“ oder die Art und Weise einer Handlung „simili modo“ – „auf ähnliche Weise“. Auch hier ist für die zutreffende Übersetzung der Kontext entscheidend. 

Eine vergleichbare Bedeutungsvielfalt enthalten die Partizipien: So kann z.B. „libri lecti“ bedeuten „gelesene Bücher“, „nach erfolgter Lektüre der Bücher“, „weil die Bücher gelesen wurden“, „obwohl die Bücher gelesen wurden“. Vor einer Übersetzung muss notwendig der logische Zusammenhang mit dem jeweiligen Kontext geprüft werden. 

Das Übersetzen aus dem Lateinischen erfordert Wort für Wort und Satz für Satz ein strenges Denken in logisch stimmigen Zusammenhängen und ein ständiges Decodieren, vergleichbar mit der Spurenauswertung und den Ermittlungen in einem komplexen Kriminalfall.

Die Wortendungen verbergen dabei die Indizien, die logisch geprüft und stimmig zugeordnet schließlich zur Lösung führen. Das macht die Arbeit spannend und erfordert und fördert zugleich systematisches Arbeiten und logisches Denken. Der Erfolg, d.h. hier: die zutreffende Übersetzung und das klare Textverständnis werden wie eine Anerkennung erfahren, bestärken und motivieren. Wer dies über mehrere Schuljahre an anspruchsvoller Literatur trainiert, beweist zweifellos eine hohe Leistungsbereitschaft.  

Pädagogische Untersuchungen zu Notenkonvergenzen einzelner Fächer haben eine auffällig deutliche Übereinstimmung von Zeugnisnoten in Latein und Mathematik festgestellt. Beide Fächer erfordern in vergleichbarer Weise analytisches und logisch-systematisches Denken, eine wesentliche Voraussetzung für Studium und Beruf. – Die Mühe lohnt sich!

(zum 2. Teil des Artikels)