Die Coronakrise hat zu einem Aufschwung digitaler Kultur-Angebote geführt. Kehren wir nach der Krise zur Normalität zurück oder bewegen wir uns immer häufiger im virtuellen Raum?

Kulturelles Vakuum

Noch sind die Folgen der Corona-Krise kaum abzuschätzen. Scheint sie in Deutschland im Gesundheitssektor glimpflich verlaufen zu sein – die „Übersterblichkeit“ hält sich hierzulande in ganz engen Grenzen, ganz im Gegenteil zu Großbritannien, Spanien, Belgien und Italien, die einen ganz erheblichen Anstieg der Todesfälle im Vergleich zu der durchschnittlichen Sterblichkeit im selben Zeitraum der vergangenen Jahre aufweisen -, so leidet die Wirtschaft in einem Maße an den Konsequenzen des „Lockdown“, was sich erst noch in den nächsten Monaten zeigen wird.

Theater- oder Konzertaufführung vom eigenen Sofa aus

Massive Folgen hatte die Corona-Krise darüber hinaus im Kulturbereich: Monatelang blieben Museen, Konzerthäuser, Theater und Kinos geschlossen – und teilweise bleiben sie es noch. Museen und auch Theater oder Konzerthäuser reagierten auf die Schließung damit, dass sie ihr virtuelles Angebot erweiterten: Interessierte konnten und können einen Museumsrundgang oder eine Theater- oder Konzertaufführung vom eigenen Sofa aus übers Internet erleben, als Mitschnitte alter Theater-Inszenierungen oder als Livestreaming eines in einer leeren Elbphilharmonie von einsamen Musikern gegebenen Konzertes. 

Allerdings bedauerte „Die Zeit“ am 27. Mai gerade diese Lage: „Für viele Hamburger scheint der Wegfall der Kultur erstaunlich verschmerzbar zu sein: Geht man eben mal nicht ins Theater. Hört man sich Brahms und Beethoven eben nicht in der Elbphilharmonie an sondern zu Hause über Spotify. Muss auch mal gehen, jetzt sind ohnehin andere Dinge wichtiger. Wenn in dieser Stadt seit Mitte März überhaupt noch über Kultur gesprochen wurde, dann häufig in dieser Tonlage.“

Reaktionen auf die Corona-Einschränkungen

Außergewöhnliche Umstände erfordern außergewöhnliche Lösungen. Beispielsweise bot der Norddeutsche Rundfunk eine virtuelle Bühne, auf der mehr als 100 Künstler „auftraten“ – laut NDR „ein großer Mix aus den Genres Pop, Folk, Klassik und Jazz“. Der NDR strahlte „die selbst gedrehten Clips der Kulturschaffenden, die im Wald, im Garten, im Probenraum oder im Wohnzimmer entstanden sind“, aus.

Die Schließung der Kinos führte andererseits zu einem Aufschwung der Film- und Serien-Streaming-Plattformen: Nachdem „Netflix“ im ersten Quartal 2019 erstmals einen Rückgang in den Vereinigten Staaten hinnehmen musste, gewann der Streaming-Riese in den Corona-Zeiten nach eigenen Angaben 15,8 Millionen Abonnenten hinzu. Die im Dezember 2019 eingeführte Streaming-Plattform „Disney TV+“ erreichte in den ersten fünf Monaten, auch dank „Corona“, mehr als 54 Millionen Bezahlabos, davon 22 Millionen in den letzten zwei Monaten.

Grenzen der virtuellen Welt

Langsam öffnen, wenn auch unter besonderen „Corona“-Bedingungen, Museen, Theater, Konzerthäuser und auch Kinos wieder ihre Häuser fürs Publikum. Wie sieht das zukünftige Verhältnis zwischen Liveerlebnis und virtuellem Besuch einer Kultureinrichtung aus? Kehrt im Kulturbetrieb eine „neue“ oder einfach die Normalität zurück? Musste sich alles ändern, damit alles bleibt, wie es vor der Corona-Krise war, um Giuseppe Tomasi di Lampedusa zu paraphrasieren? Oder hat die unter Corona-Umständen fortschreitende Virtualisierung zu einer Privatisierung der Kultur geführt, die gekommen ist, um zu bleiben?

In einer Sonderausgabe des Berliner MuseumsJournals mit dem Titel „Corona-Issue“ berichten etwa 30 Direktorinnen und Direktoren von Berliner Museen über ihre Erfahrungen in Corona-Zeiten sowie über ihre Zukunftsperspektiven. Der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Hermann Parzinger weist darauf hin, dass „das authentische Erlebnis des Originals“ nur im Museum möglich sei: „Das Digitale kann nie das Original ersetzen“. Weitere Verantwortliche von Landes- und Bezirksmuseen äußern Ähnliches, so Karoline Köber und Nadim Samman von „KW Institute for Contemporary Art“: „Einen Besuch vor Ort kann die Übertragung im Netz nicht ersetzen – die physische Existenz einer Ausstellung und deren direktes Erfahren stellen eine nicht zu reproduzierbare Qualität des individuellen Erlebens dar.“ 

Ein Konzerthaus ohne Besucher ist wie ein Fisch ohne Wasser. (Raphael von Hoensbroech)

Ähnliches sagt auch Intendant Raphael von Hoensbroech vom Konzerthaus Dortmund: „Ein Konzerthaus ohne Besucher ist wie ein Fisch ohne Wasser – es atmet nicht. Das habe ich auch bei unseren Livestreams der letzten Wochen gemerkt. So schön diese Konzerte auch waren, ihnen fehlte das Zutun des Publikums, das die Künstler spüren.“

Wenn nun Kultureinrichtungen wieder öffnen, dann erlaubt dies zunächst einmal einen Vergleich zwischen virtuellem und Präsenzangebot. Inwiefern das von Hermann Parzinger anempfohlene „authentische Erlebnis des Originals“ zutrifft, kann sehr schön am Beispiel des Museum Barberini in Potsdam ausprobiert werden: Die große Monet-Ausstellung „Monet. Orte“, die im Februar eröffnet, aber wegen Corona im März geschlossen werden musste, hat wieder ihre Tore geöffnet, wenn auch der Eintritt nur nach Online- oder telefonischer Anmeldung möglich ist. Gleichzeitig bietet das Museum unter der Adresse https://prolog.museum-barberini.com/monet/ einen virtuellen Besuch der Ausstellung, der mit einem YouTube-Rundgang durch den Ausstellungskurator Daniel Zamani (https://www.youtube.com/watch?v=zzna3Vz98Jw) ergänzt werden kann.

Wie geht es nach Corona weiter?

Die Wiederöffnung stellt aber auch neue Fragen: Welche Stellung wird eine digitale Kultur nach Corona einnehmen?  Was bedeutet es, tradierte Präsenzformate in die digitale Welt zu überführen? Sind hier neue Formen möglich oder gar notwendig, um den veränderten Sehgewohnheiten gerecht zu werden?

Neue Wege will dem Vernehmen nach Amazon gehen. Amazon soll daran interessiert sein, die AMC-Kinokette zu kaufen, die mit mehr als tausend Kinos und 11 000 Sälen in 15 Ländern zu den größten der Welt gehört. Damit könnte das Filmstudio seine Eigenproduktionen ausschließlich in eigenen Kinos uraufführen, ehe sie online gestellt werden. Der Gesamtlösung als Verbindung von Präsenz- und virtueller Vorführung steht allerdings (noch) ein Urteil des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten von 1948 entgegen, das aufgrund des Kartellrechts Filmstudios verbietet, eigene Kinos zu besitzen. Der Kartellchef des US-Justizministeriums, Makan Delrahim, hat jedoch bereits die Absicht erklärt, diese uralte Regelung zu kippen.

Soziale Interaktion gehört wesentlich zur Kultur

Eine ähnliche Verknüpfung mit dem digitalen Angebot schwebt ebenfalls Natalie Bayer, Leiterin des „FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museums“ vor: „Wir wollen auch in Zukunft unsere Angebote mehr mit dem digitalen Raum verschränken und verstärkt mit diesen Schnittstellen experimentieren – ohne dabei die soziale Komponente zu verlieren.“ Denn die Frage der sozialen Interaktion gehört auch wesentlich zur Kultur. Sie muss allerdings nicht unbedingt in der Pause eines Konzerts oder bei einem Museumsbesuch stattfinden. Karoline Köber/Nadim Samman: „das gemeinsame Reflektieren über unsere Gesellschaft durch Kunst zu ermöglichen“ kann geschehen „egal ob im WhatsApp-Chat oder im kontroversen Zwiegespräch“.Laut einem Science-Fiction-Narrativ werden wir in der Zukunft im virtuellen Raum leben. Diese Zukunft hat indes wenigstens teilweise bereits begonnen.