Wenn der Große nicht mehr groß, der Gute nicht mehr gut, der Wissende nicht mehr wissend, der Tüchtige nicht mehr tüchtig und der Ältere nicht mehr klug sein will – wer sollte den Jungen und Unerfahrenen dann Vorbild sein, dessen sie zum Wachsen und Reifen bedürfen? 

Die meisten unserer Verhaltensweisen werden diktiert durch die instinktive Abneigung, Dinge zu tun oder zu sagen, die bei den Mitmenschen, gleich welchen Alters, Missfallen erregen. Die Furcht, aus der Gruppe ausgestoßen zu werden, ist tief in uns allen verankert.

Nicht nur Kinder, auch Erwachsene wollen geliebt und anerkannt sein. Leider kollidiert das Urbedürfnis nach Liebe und Anerkennung in der Erziehung mit der Notwendigkeit konsequenter Grenzsetzung durch den Erwachsenen.
von Karin Pfeiffer

Kumpanei schadet!

Erziehung fordert beiden Parteien viel ab. Der Erwachsene wird seine eigenen Triebe und deren spontane Befriedigung nicht weniger zurückdrängen müssen als das Kind, von dem er dieses verlangt. Vorbild sein zu müssen ist anstrengend, denn Entsagung und Selbstbeherrschung werden verlangt. Beide, Erwachsener und Kind bewegen sich auf ein gemeinsames Ziel zu, aber nur der Erzieher kennt es, er geht deshalb voran.

Menschenführung ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe; wer sie übernimmt, darf dem eigenen Bedürfnis nach Harmonie nicht einfach nachgeben. Fraglos ist der Erzieher in vielen Situationen mit seinen Entscheidungen allein. Das Gefühl der Verlassenheit aber muss er ertragen können, will er ein guter Erzieher sein. Sobald die eigene emotionale Bedürftigkeit das Verhalten des Erziehers prägt, erniedrigt er sich vor den Augen der Zöglinge. 

Nichts ist der Beziehung zu Kindern und Jugendlichen abträglicher als Kumpanei, Inkonsequenz und Scheintoleranz zum durchsichtigen Zwecke, sich beliebt zu machen. 

Ohne dies auch nur zu wissen oder zu wollen, beschädigt der Erwachsene damit das eigene Ansehen und die Würde seines Amtes. Die Kumpanei wird von den Kindern ohne Umschweife als Schwäche entlarvt und hinterrücks der Lächerlichkeit preisgegeben. Achtung und Liebe sind eben nicht käuflich zu erwerben.

Wellenreiter oder Leuchtturm

Übergroße Nachgiebigkeit ist eine schlechte Währung für das Erziehungsgeschäft. Der ängstliche Erwachsene ist unfähig, konsequent zu handeln und Orientierung zu bieten, was seine eigentliche Aufgabe wäre. Er ist der Wellenreiter. Seine Worte und Taten tanzen auf den Schaumkronen des jeweils günstigsten Augenblicks. Die Siege des Wellenreiters sind niemals von Dauer. Zeitgeistsurfer und Vermeidungsstrategen sind in der Erziehung fehl am Platz.

Unsere Kinder suchen das standhafte Vorbild, sie suchen Halt; dazu bietet sich der Leuchtturm an. Dem hoch emporragenden Bauwerk können weder Wind noch Wellen etwas anhaben. Stolz und aufrecht erfüllt der Turm seine Aufgabe. Sein bloßes Dasein bringt Berechenbarkeit in die Abläufe des Lebens. 

So wie er heute aufragt, wird der Turm auch morgen noch am selben Platz stehen. Und übermorgen ebenso. Er weist den Weg, wie nur jemand ihn weisen kann, der sich nicht selbst auf der Suche nach Halt befindet. Wir sollten uns gelegentlich in Erinnerung rufen, dass Nachgiebigkeit und Schwäche nur dann den gewünschten Eindruck hinterlassen, wenn diese von einem ansonsten starken und aufrechten Menschen gezeigt werden.

Was groß ist, soll sich nicht klein machen

Die Erwachsenen sind älter und deshalb größer, stärker, wissender, tüchtiger, erfahrener, klüger als Kinder. Diese wissen, dass ihr Wohlergehen von der Fürsorge und dem Wohlwollen der Erwachsenen abhängt. Sie kennen die wahren Zusammenhänge und sind irritiert, wenn wir so tun, als sei es geradewegs anders herum. 

Natürlich spielen sie das Spiel „Everything-is-the-opposite-of-everything“ mit, bringt es doch einen kurzfristigen Nutzen. Wer jedoch gelernt hat, in den kleinen Gesichtern zu lesen, wird darin ein gewisses Unbehagen erkennen. Es sind deutliche Anzeichen der seelischen Nöte, welche sich bei Schiffbrüchigen einstellen, die ohne jede Orientierung auf weiter See treiben.

Respekt und Liebe

„Streng, aber gerecht!“ Das ist wohl die bestmögliche Note, welche einem Lehrer am Ende seiner Tätigkeit von ehemaligen Schülern ausgestellt werden kann. Meist schwingt in diesem Urteil nicht nur ungeteilte Hochachtung, sondern so etwas wie Liebe mit. 

Kumpanei und die im Gewande der Toleranz einherkommende Indifferenz waren noch niemals Eigenschaften, die an Lehrern oder Eltern als besonders wertvoll geschätzt worden wären. Junge Menschen haben für wankelmütige „Leuchttürme“ nun einmal nichts übrig.

Und wie steht es mit uns, die wir nun nicht mehr so jung sind? Lassen wir doch einmal vor unserem inneren Auge die Riege derjenigen defilieren, welche in unserer Gesellschaft führende Positionen bekleiden. Wer von diesen Persönlichkeiten verdient unseren Respekt? Wer nicht? Und warum?

Der Mensch lernt und reift, indem er voller Bewunderung nach „oben“ blicken darf. Er wird nicht wachsen, wenn er mangels höherstehender Objekte den Blick bloß in die Waagerechte oder nach „unten“ richten kann. Machen wir uns deshalb niemals kleiner, als wir tatsächlich sind!